Übergänge und Wendepunkte im Leben

fabrico: Springen – müsste man nicht einfach springen? Weg von dem, was im eigenen Leben aufhört, allmählich oder plötzlich zu Ende geht, sich weigert einen weiter zu tragen und mitzunehmen. Alles loslassen und springen, von einem Moment auf den anderen etwas beenden und sich trauen, in das Neue und Ungewisse konsequent hineinspringen. Sich nicht fallen lassen, sondern bewusst zu springen und das Vertraute, Gewohnte, allzu lang Gelebte hinter sich zu lassen. Wäre das die Lösung aller Probleme in Situationen, in denen man sich im Übergang von einer bedeutenden Lebensphase in etwas Neues und Unbekanntes befindet?

THEO: Ja, die Vorstellung hat etwas Faszinierendes.
Wenn man sich einfach zu springen trauen würde, hin zu dem, was womöglich noch nicht so wirklich Kontur hat, was eher im Dunst liegt oder. Einfach über die Baustellen springen, die das Leben in unterschiedlichen Ausprägungen gerade erschafft. Ein faszinierender Gedanke, aber meist schwer zu realisieren. Und es stellt sich die Frage, ob es in jedem Fall wirklich Sinn machen würde zu springen.

 

fabrico: Könnten das nicht alle Menschen ?

 


THEO: Ich habe Menschen kennenglernt, die tatsächlich zu springen gelernt haben, die alles hinter sich lassen und neu beginnen können. Ich vermute, dass diese Fähigkeit auf günstige Voraussetzungen und positive Erfahrungen in der eigenen Kindheit beruhen, auf Eltern beispielsweise, die ihre Kinder ermutigt haben, sich mit dem Neuen zu beschäftigen, die Neugier gefördert haben und dennoch dem eigenen Kind Sicherheit vermittelt haben. Diese Menschen nehmen die Sicherheit aus ihrem alten Leben mit und Erfahrungen damit, dass das Neue nicht etwas Bedrohliches sein muss, vor dem man Ängste entwickelt, sondern dass das Neue zu Erweiterungen der eigenen Komfortzone beiträgt.
Ich kenne allerdings auch Menschen, die tendenziell zwanghaft in Situationen des Umbruchs springen, um vor etwas zu fliehen und die sich dem, was ist, verweigern. Diese Menschen wollen sich nicht mit dem Vergangenen auseinandersetzen, aus welchen Gründen auch immer.
Natürlich gibt es auch – das sollte nicht unberücksichtigt bleiben – auf der ganzen Welt Menschen, die durch äußere Ereignisse aus ihrem gewohnten und vertrauten Leben springen müssen. Es ist ihre einzige Chance. Sie müssen dies tun, weil ihr vertrautes Lebensumfeld durch Kriege oder Naturkatastrophen oder schlimme persönliche Umstände zerstört wird oder wurde.

fabrico: Übergang:  Da hast du recht, Theo! Daran sollten wir gerade in unserer Gesellschaft denken. Zumal wir zunehmend um die kriegerischen Auseinandersetzungen wissen, die uns umgeben. In unserer Gesellschaft ist wohl immer noch ehr das gehen angesagt als das Springen.

 


In der Mehrzahl versuchen – so meine Vermutung – die meisten Menschen durch solche Situationen eines  lebensgeschichtlich relevanten Übergangs hindurch zu gehen. Es heißt ja auch Übergang, nicht Übersprung. Manchmal stolpern sie auch durch solche Lebenssituationen. Außerdem kann man ohnehin nicht sonderlich gut springen, wenn man schon beim Anlauf so viel Gepäck bei sich trägt, das man mitnehmen will oder muss. Viele Menschen schleppen sich über den Übergang, sich und all das Gepäck, das eigentlich in eine Zeit gehört, die am Vergehen ist. Manchmal wird man auch geschoben oder gezerrt – durch Umstände, Menschen oder Tatsachen, an denen man sich nicht mehr festhalten kann oder darf. Dann hat man in aller Regel die günstigen Zeitpunkte verpasst.
Und ich selbst? Ich halte erst einmal, wie viele Menschen, möglichst viel fest. Das ist am Anfang so! Eine Art Schockreaktion. Ist der Schock abgeklungen, dann werde ich in einer nächsten Phase eher ein hektischer Geher, der allerdings allzu oft dummerweise einen Arm in das Vergangene hineinhält, um etwas zu Spüren und zu Berühren, was auf der Passage nicht mitgenommen werden konnte, dass aber unangemessen wertvoll erscheint, viel wertvoller als zu Zeiten als es noch zu meinem Alltag gehörte. Ich weiß selbst nicht so genau weiß warum. ich das tue. Manchmal ärgere ich mich darüber Das ist meist eine schwere Geburt für mich, das Losgehen, Losgehen und zugleich Festhalten. Nicht selten lasse ich in solchen Situationen los, doch halte noch einen Arm ins Vergangene, vielleicht um das Vergehende noch ein wenig zu berühren und zu spüren. Ok, das ist nichts Besonderes! Viele Menschen, vielleicht die meisten, sind da ähnlich wie ich.
Aber es soll nicht um mich gehen. Natürlich flechte ich mich hier immer wieder ein, denn ich betrachte die unterschiedlichsten Übergänge auch aus meiner Perspektive. Aber nicht allzu sehr, hoffe ich.
Ein bedeutender, das Leben stark beeinflussender Übergang im Leben dehnt, staucht, quetscht und zerrt den Menschen, der sich in diesem Übergang befindet. Dies umfasst auch seine Wahrnehmungen, seine Gefühle, auch das Selbstgefühl, und das eigene Erleben. Es ist wie die Raumzeit bei Einstein, die von den Kräften des Raumes und der Masse der Sterne, in deren Nähe sie sich befindet, gedehnt oder gequetscht wird. Nicht alle Übergänge haben diese Macht und Kraft, aber die bedeutenden haben sie.

Unterschiedlichen Zeitphasen und
Geschwindigkeiten
Ein wichtiger Faktor sind aus meiner Sicht zudem die unterschiedlichen Zeitphasen und Geschwindigkeiten, die sich durch unsere Gefühlswelten, unsere Erlebens- und Erfahrensweisen schlängeln. Es gibt vermutlich menschheitsgeschichtlich sehr alte, sich nur langsam und ganz allmählich verändernde Empfindungen und Gefühle in jedem von uns. Diese Empfindungen können manchmal wie eine nässende Wunde sein, die nur schwer heilt. Da braucht es Zeit und Geduld. Es macht viel Sinn daran zu arbeiten, ohne zu erwarten, dass dies die Heilung beschleunigt. Aber die Arbeit am Selbst in diesem Bereich und vielleicht mit der Hilfe anderer kann Voraussetzungen schaffen, dass überhaupt eine Heilung möglich wird. Und zugleich gibt es interessanterweise andere Ebenen in unserem Gefühlsleben und Gefühlserleben, die eigentlich mit dem Thema schon fast durch sind. Das merke ich oft an mir selbst.
Der Blick auf das, was man verlässt oder verlassen muss, verändert sich, wenn man aufstehen und aus diesem vertrauten Lebensabschnitt geht oder gehen muss. Nicht selten setzt eine Verzerrung der Wahrnehmung des Vergehenden ein, die in Richtung Verklärung des Alten und Vertrauten driftet. Ich vermute auch, dass zuweilen diverse Grade eines sich Verklärens und auch in gewisser Weise selbst Belügens bezogen auf sein bisheriges Leben einsetzen. Das ist an sich nicht unbedingt schlimm, erleichtert aber nicht gerade den Abschied und die Wanderung über den Übergang.
Ich habe oben gefragt, „ob es in jedem Fall wirklich Sinn machen würde zu springen? Gibt es auch Argumente, die dagegen sprechen würden?“ Meine Antwort: Ja und zugleich nein! Wer vom Alten ins Neue springt und nichts von dem Alten festhält, berührt, vermisst, sich sehnt danach, der ist wirklich frei. Aber dazu muss er oder sie die Fähigkeit zur Freiheit entwickelt haben und in sich tragen. Denn sonst kann es zu einer seelischen Katastrophe führen. Diese besteht darin, dass sich das Vergangene einkapselt und ins Unbewusste verkriecht und sich dort einnistet und auf bestimmte Auslöser aktiviert wird. So können psychische Probleme in der Zukunft entstehen, die womöglich unerwartet auftauchen und die eigene Dynamiken entfalten.